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Neue Räume einer globalisierten Gesellschaft

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[Die­ser Essay von Poo­nam Choudhry wurde erst­mals in »Der Raumjournalist« (Aus­gabe 09. Dezember 2012) ver­öf­fent­licht.]

Die Welt verändert sich spürbar. Mehr als jemals zuvor mischen sich die verschiedenen Welt-Kulturen, wodurch neue, heterogene Kulturen entstehen – lokal wie global. Dies führt unweigerlich zu einem neuen Verständnis des räumlichen Gefüges, in dem wir uns bewegen. Wohin sich die Räume in der Zukunft entwickeln werden, erläutert die aus Indien stammende Stuttgarter Designerin Poonam Choudhry in ihrem Essay. Mit freundlicher Unterstützung von Lista Office.

In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit.
Gaston Bachelard, Essay »Poetik des Raumes«.1

Mehr denn je beschäftigen wir uns mit dem Raum – denn der Raum beschäftigt uns. Ob Lebensräume, öffentliche Räume, private Räume, Bühne oder virtueller Raum: Immer dreht es sich um den Raum. Wir begeben uns in den Nukleus eines Raumes hinein und treten wieder heraus. Welche Rolle spielt bei all dem die Gestaltung des Raums?

Ende der 1980er Jahre vollzog sich ein Paradigmenwechsel in der Kultur- und in der Sozialwissenschaft. Seit diesem „spatial turn“ steht nicht mehr allein die Zeit im Zentrum kulturwissenschaftlicher Betrachtungen, sondern als neues Element auch der Raum. Heute „ist das Verhältnis von Design und Städten […] existenziell geworden. Dies allein zeigt die Bedeutung, die Städten in Zukunft als Lebensraum zukommen wird“, schreibt Mateo Kries.2 Denn im Jahr 2015 wird es über 550 Städte mit jeweils mehr als einer Millionen Einwohnern geben.

Die Landflucht ist allgegenwärtig, die Menschen strömen in die Stadt. Doch im Gegensatz zu früher ziehen die Menschen nicht mehr in die Zentren, sondern in die suburbanen Zonen, ins städtische Umland also, wo man meist noch immer besser an das kulturelle Angebot und die Arbeit angebunden ist, als auf dem Land. Die Strukturen konzentrieren sich, und so brauchen wir Räume der Begegnung und Kommunikation, demgegenüber aber auch Räume der Intimität. In den Städten ändern sich die öffentlichen und die privaten Lebensräume. Die öffentlichen Räume bedürfen einer privaten Rückzugsmöglichkeit als Aufenthaltsqualität, die privaten Räume bekommen ihre öffentlichen Auftritte als gastgebende „Showrooms“.

Eine Gesellschaft im Wandel

Weitere tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft stellen uns vor neue Herausforderungen.

Die demografische Verschiebung und der immer größer werdende Anteil an älteren Menschen:

Für die vielen Menschen jenseits der Rente mit 67 müssen neue Lebenskonzepte gefunden werden. Wichtig ist hier vor allem das soziale Miteinander. Vielleicht ist auch das Modell des typischen Altersheims nicht mehr die einzig richtige Lösung für die Zukunft. Herausgefordert sind hier vor allem Architekten, Innenarchitekten und Designer. Sie müsse neue Ansätze für die ältere Generation finden, immer mit Blick auf die Soziologie und den kulturellen Hintergrund. In seinem Vortrag anlässlich der Verleihung des Demografie Exzellenz Awards Baden-Württemberg 2011 regte der renommierte Universitätsprofessor Dr. Andreas Kruse an, auch die Sichtweise auf das Älterwerden selbst zu überdenken. So solle es nicht mehr selbstverständlich sein, in Ruhestand gehen „müssen“, sondern – in einer veränderten Form – aktiv an der Gesellschaft teilnehmen zu können.

Die Migration, also die Einwanderung von Menschen aus verschiedenen Ländern:

Europas Völker wechseln ihr ethnisches und kulturelles Gewand, schreibt Sami Nair.2 Eine Folge der Migration. Und damit ändert sich auch unser Anspruch an die Räume. Die Zahl der Einwanderer steigt, und so brauchen wir andere, kulturell gestaltete Räume. Die Menschen aus den unterschiedlichen Kulturen benötigen neue, ihnen vertraute Plätze der Kommunikation und Begegnung. Diese Räume erfordern verschiedene Inszenierungen, in denen Kulturen gelebt werden können. Es hat also eine neue Form der Raum-Globalisierung begonnen, in der sich die unterschiedlichen Lebensweisen vermischen. Für wen aber werden sich die räumlichen Strukturen ändern?

Vor allem für diejenigen, die diese Veränderungen direkt erleben: Paare aus unterschiedlichen Ländern wie ich und mein Mann. Ich als Inderin, mit ihren Eltern in jungen Jahren nach Deutschland gekommen ist, und mein Mann, der in Deutschland geboren ist. Ich spüre beide Kulturen in mir. Wir gehören zu denjenigen, die in gewisser Weise auswandern, einwandern, die Kultur vom jeweiligen Land aufnehmen, sich inspirieren lassen und gleichzeitig Anregungen aus ihrer ursprünglichen Kultur mitbringen. Das Bewahrende und Erweiternde. Zwar wird die gewisse Diskrepanz immer bleiben, aber aus ihr werden sich kreative Ansätze, Ideen, Projekte und neue Lebensräume entwickeln. Da steht zum Beispiel in einem unserer Räume ein handgearbeiteter Tisch aus Asien, während sich im anderen ein reduziert gestalteter Tisch im Bauhausstil befindet. Und bei vielen Architekten wiederum findet man immer wieder auch Eames-Stühle – sind das etwa nur die einzigen zeitgemäßen Klassiker? Bei Stilrichtungen dürfen wir nicht mehr in Schubladen denken, sondern müssen die Inspiration durch verschiedene Kulturen zulassen.

Drittens schließlich: Die Veränderungen angesichts der momentanen mentalen wie zeitlichen Herausforderungen im Beruf.

Sie führen zu einem Bedürfnis nach Ruheräumen, nach Meditationsräumen. Warum sonst versuchen wir uns die Wege zu erleuchten mit einer Fülle an Angeboten in Form von Spas in Hotels, Yogakursen und Meditation, die zur Entspannung unserer Seele führen sollen? Die Sehnsucht nach Räumen, in die man sich zurückziehen kann, wächst rapide. Wie können und sollen diese Räume in Zukunft aussehen? Können vielleicht bereits gelebte Lösungen aus verschiedensten Ländern ein Vorbild sein?

In Indien beispielsweise gibt es in jedem Haus einen kleinen Tempel oder zumindest eine Ecke, in der sich die Menschen für ein paar Augenblicke zurückziehen und die Gedanken konzentrieren können. Für einen solchen Ort benötigt man nicht viel, nur einen leeren oder zumindest fast leeren Raum. Der japanische Architekt Tadao Ando zum Beispiel hat den Komyo-Tempel auf der japanischen Insel Shikoku spartanisch und doch mit einem warmen Innenleben ausgestattet. Formal reduziert und doch asiatisch verwurzelt mit akzentuierter, voluminöser Ausstattung. Oder, als jüngeres Beispiel, die vom südkoreanischen Architekten Eun Young Yi entworfene neue Stuttgarter Stadtbibliothek: Der Mensch brauche mehr als die Verspieltheit kommerzieller Orte, entgegnet er und verstärkt seine Aussage noch, indem er mitten ins Gebäude großflächig einen absolut leeren »Raum der Stille« anordnet.3

„Glaubensfreiheit setzt Neutralität des öffentlichen Raumes voraus“, so Sami Nair weiter in seinem bereits erwähnten Essay. Die Aufenthaltsqualität eines solchen Raumes ergibt sich aus seinen »Accessoires«. Diese symbolisieren in ihrer Zurückhaltung die Anwesenheit einer Art Essenz der Dinge. Es wird also immer bedeutender werden, solche Räume in einem Haus, einer Wohnung oder in der Öffentlichkeit einzurichten und den Bewohnern zur Verfügung zu stellen. In Räumen in der traditionell asiatischen Architektur beispielsweise werden immer die vier Grundelemente verarbeitet: „Feuer“ im Sinne der Quelle von Wärme, „Luft“ zum Atmen (etwa als reduziert eingerichteter Bereich), „Wasser“ als für unser Dasein essenzielles Element und Erde in Form von Pflanzen in Haus und Garten. In der indischen Philosophie kommt als fünftes Element noch der Raum (engl. Space) dazu. Dieses fünfte Element ist wie eine Leiter aller Energiequellen, zu denen die physikalischen Kräfte wie Schall und Licht, die sozialen Kräfte wie die Psychologie und die Emotionen sowie die kognitiven Kräfte wie der Intellekt und die Intuition zählen.

Es wird also interessant werden, wie in Zukunft die durch verschiedene Kulturen geprägten Menschen ihre Idee von Wohnen und Einrichten umsetzen. Zurzeit jedenfalls hat man den Eindruck, dass das Bauen vor allem durch das Thema Nachhaltigkeit beeinflusst wird. In einer Rede zu Stress und Freiheit bemerkte der Philosoph Peter Sloterdijk, Nachhaltigkeit stelle das semantische Zentralsymptom unserer Zeit dar. Ein neuronaler Tick! Denn das von ihm genannte Zentralsymptom Nachhaltigkeit lässt sich vielfältig ein- und besetzen. Aus der Verantwortung der Nachhaltigkeit jedenfalls resultiert, dass nichts bleiben kann, wie es ist, und es jetzt Zeit für Veränderungen ist.

Die Inszenierung von Raum

In einer Zeit, wo draußen alles schneller und unsicherer wird, sucht man drinnen nach Ruhe und Ausgeglichenheit. Wie können wir auf diese Bedürfnisse beim Bauen, Einrichten und Gestalten von Produkten in Zukunft eingehen? Wo und wie soll sich der Raum öffnen oder verschließen? Ein neuer Begriff hat in der letzten Zeit von sich reden gemacht: die Szenografie. Szenografie kann für eine Bühne wie für die Gestaltung eines Raumes verwendet werden. „Keine andere Kreativdisziplin verfügt über ein so vielfältiges Instrumentarium zur Gestaltung von Raum wie die Szenografie. Szenografie instrumentalisiert die Mittel des Theaters, des Films und der bildenden Kunst, um unverwechselbare Raumdramaturgien zu inszenieren“, schildert Uwe R. Brückner, Professor für Szenografie an der Hochschule in Basel. Wie äußert sich diese Raum-Szenografie beispielsweise auf Fachmessen? Räume spielen hier eine große Rolle für die Zwischenmenschlichkeit. Sie ist dafür da, Begegnungsmöglichkeiten und Atmosphären für Gespräche zu schaffen. Auf den Messen ist dies an den vielen Lounges und Vorträgen erkennbar – ein neues Markenzeichen von Messen?

Wie steht es demgegenüber um die Architektur und die räumliche Gestaltung bei Museen, wo es auch um die Inszenierung von Exponaten geht? Derartige Projekte sind zum Prestigeobjekt der Architekten geworden. Aber: Es entstehen auch hier teilweise sehr tiefgründige Gestaltungskonzeptionen, wie beispielsweise auf der japanischen Insel Teshima, wo die Künstlerin Rei Naito und der Architekt Ryue Nishizawa ein Kunstmuseum ohne Ausstellungstücke geschaffen haben. Die Besucher des Museums sehen lediglich die Natur der Insel und den Himmel. Es ist ein Ort der Ruhe, in dem allenfalls die anderen Besucher stören (weshalb den Innenraum nur wenige Gäste gleichzeitig betreten dürfen).4

Räume der Zukunft

Was bedeuten all diese Entwicklungen nun für die Zukunft des Raumes? Wie werden wir Räume in Zukunft denken müssen? Die Räume der Zukunft möchte ich gerne in sieben Kategorien fassen:

Erstens: Sehnsuchtsräume. Sie sind alle noch so kleinen Räume, in denen sich Dinge befinden, die auf noch nicht erfüllte Wünsche wie zum Beispiel Reisen in andere Kulturen verweisen.

Zweitens: In gelebten Räumen bewahren wir die schönen Erinnerungen auf, die wir auf unseren Reisen gesammelt haben. Das Unbewusste spielt bei dieser Erinnerung eine entscheidende Rolle. Und Erinnerungen werden tiefer, je besser sie verräumlicht sind.

Drittens: Private Räume der Repräsentation. Arbeitsplatz und Privatraum vermischen sich heute häufig. Deswegen „schmücken“ manche ihren Raum mit verschiedenen Accessoires wie Designer-Möbeln aus, damit eine individuelle Raum-Philosophie erkennbar wird.

Viertens: Arbeitsräume. Gegenüber dem letzten Jahrhundert hat sich deren Gesicht wesentlich verändert. Der Ort, die Zeit und die Individualität der Menschen sind nur einige Faktoren für diese Entwicklung. Ein modernes Büro ist mit zeitlich flexiblen Räumen sowie festen Räumen für Besprechungen ausgestattet. Es gibt Mitarbeiter, die ständig auf Reisen sind, es gibt solche, die nur ab und zu unterwegs sind, und solche, die immer im Büro arbeiten. Das erfordert ein neues Denken über die Gestaltung von Büroräumen.

Fünftens: Räume der Zukunftsvisionen. Ob auf Weltausstellungen, wo Nationen ihre Architekturen präsentieren, oder die Visionen auf den Bühnen dieser Welt sind. Sie alle formen eine Utopie, gehen an die Grenzen des Möglichen und Machbaren, setzen sich aber auch kritisch mit der Lebensweise und dem Denken einer Gesellschaft auseinander.

Sechstes: Nomadenräume. Diejenigen, die oft unterwegs sind, suchen manchmal abseits der gängigen Hotels Orte, an denen sie sich für eine bestimmte Zeit zu Hause fühlen können. Was sie suchen, ist ein Raum, in dem sie all die kleinen Gesten finden, die den Aufenthalt in einer fremden Stadt vertraut machen.

Zu guter Letzt siebtens: Die Bühnen dieser Welt. Mit ihren Darstellungen (Tanz und Schauspiel) philosophieren diese Räume, sie spiegeln wider, rütteln wach, lehren, bewegen (manchmal auch ins Negative) und faszinieren. Hier aber wird die Dimension des Räumlichen klar: Spielereien mit dem Raum, vor allem die Veränderbarkeit des Raumes, lässt auf der Bühne schnell und einfach umsetzen. Es entsteht ein Hauch von Dasein, der während der Vorstellung aber wieder verrinnt.

Der virtuelle Raum ist bei all dem eine Parallelwelt. Er ist häufig mit den genannten realen Räumen verknüpft. Aber auch hier kann man nicht einfach nur von einem einzigen virtuellen Raum sprechen. In welche Richtung sich die virtuelle Welt entwickeln wird und wie man diese Räume dann verifizieren kann, muss in Zukunft aber untersucht beziehungsweise erforscht werden.

Neue Terrains für eine neue Gesellschaft

Was wir brauchen, ist ein neues Nachdenken über neue Raum-Konzeptionen. Wie Kurt Weidemann sagt: „Wenn wir einen Blick in die Zukunft richten wollen, um sie zu gestalten, müssen wir mit der Gegenwart ins Gericht gehen und sollten wir von der Vergangenheit mehr wissen.“ Den Background anderer Kulturen, die Lebensweise und Geschichte zu kennen, ist eine der wesentlichsten Voraussetzungen, um Räume, die wir wirklich brauchen, entwerfen zu können.

Wir brauchen Räume der Ruhe, fast leere Räume, um uns zu beruhigen und in uns gehen zu können. Sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich ist dies von immenser Bedeutung. Die Lautstärke und die Hektik in den Städten erfordern es. Es muss Orte geben, an denen wir unser Tempo verlangsamen, ja fast zum Stillstand bringen können, damit wir die Motivation und Kraft für die Arbeit und den Alltag wieder schöpfen können – und um wieder zu uns selbst finden zu können.

Wir brauchen neue Orte der Begegnung, Toleranzstätten, Terrains, auf denen sich verschiedene Nationalitäten begegnen können, ohne sich dabei fremd fühlen zu müssen. Dies erfordert eine größere Wahrnehmung und Sensibilisierung auf diesem Feld. Dazu müssen wir uns noch stärker öffnen für andere Kulturen, damit wir uns von den verschiedenen Elementen und Ideen inspirieren und diese als Designer in unsere Arbeit einfließen lassen können.

Die Veränderungen in der Gesellschaft fordern dieses Umdenken schon lange heraus. Aber noch haben die Menschen keine adäquate Antwort auf diese neue gesellschaftliche Situation gefunden. Wir müssen jedoch auf die Signale unserer Zeit hören. Die Visionen der neuen Lebensräume werden sich zukünftig nur durch Aufklärung, Forschung und Wissen gemeinsam verwirklichen lassen. Und am Ende wird all dies, wie bei Bachelard eingangs erwähnte, in Form von verdichteter Zeit im Raum aufbewahrt werden.

Poonam Choudhry

1 Raumtheorie, Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, 2006
2 Mateo Kries, Total Design, 2010
3 Essay von Sami Nair, Europa wird mestizisch, LI 91, Winter 2010
4 Der Spiegel, 41/2011, Marktplatz der Ideen
5 Stuttgarter Zeitung, 21. Mai 2011
6 Geo vom 6. Juni 2011

Über den Wert des Designs

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Über den Wert des Designs

In der Rubrik »Discourse«, ein Essay in der form, Ausgabe 237, reflektiert die in Stuttgart arbeitende Designerin Poonam Choudhry Über den Wert des Designs«.

Ich danke Kurt Weidemann für seine Unterstützung bei Entwicklung dieses Essays für das Designmagazin »form« und dass er mich ermutigt hat, mit dem Schreiben fortzufahren.

Poonam Choudhrys Essay »Über den Wert des Designs« ist auch auf der Hochschulplattform Sprache für die Form, Forum für Design und Rhetorik, von Prof. Dr. Volker Friedrich, HTWG Konstanz online.