Etappe 4
Usedom
Mittwoch, 16:30 Uhr Abfahrt vom Inselbahnhof Borkum mit der Inselbahn zur Reede von Borkum. Zweieinhalb Stunden Fahrt mit der Fähre nach Emden Außenhafen. Vom dortigen Bahnhof über Emden nach Hamburg. In Hamburg Zwischenstopp für eine Stunde. Erinnerung daran, dass ich in Hamburg 1989 mehrere Tage verweilte, weil ich hier die Fotos für meine AV-Show machen wollte, was zum Pflichtprogramm des 4. Semesters an der Staatlichen Akademie der Künste Stuttgart, an der ich studiert habe, gehörte. Mein Thema war das Musical Cabaret in der Bühnenfassung von Jêrome Savary, das gerade in Hamburg am Schauspielhaus gastierte. Diese Musical war damals eine Co-Produktion für das Pariser Theater Mogador und dem Düsseldorfer Schauspielhaus. Für die Rolle der Sally Bowles war Ute Lemper ausgewählt. Mein Onkel Hugo war als Schauspieler für die Rolle des Ernst Ludwig ausersehen; es ist die Rolle des kleinbürgerlichen Nazis, den in dieser überwiegend französischen Produktion selbstverständlich nur ein Deutscher spielen konnte, und er spielte seine Rolle sehr gut. Sinnigerweise ein Deutscher, dessen Vater 1945 auf der Flucht von Westpreußen Richtung Westen erschossen wurde und dessen Mutter dann unmittelbar danach von russischen Soldaten Schlimmes erfahren musste — die Kinder, 7, 5 und 3 Jahre alt durften selbstverständlich dabei zusehen.
Ich habe diese Inszenierung von Cabaret oft gesehen, in Düsseldorf, in Zürich, in Paris, in Douai, in München. Und irgendwann hatte ich die Idee auf das Eröffnungslied «Willkommen, Bienvenue, Welcome» eine AV-Show zu realisieren, in der alles was vor dem Öffnen des Vorhangs passierte gezeigt wird, also der Bühnenaufbau, die Proben, das Umkleiden, und alles was sonst so hinter der Bühne passierte, auch die kleinen menschlichen Dramen und vor allem die rauschenden Partys. Ja, das war eine tolle Truppe, das Orchester spielte nicht nur auf der Bühne, sondern auch bei den Festen Backstage. Unvergesslich für mich wie Ute Lemper nach einer Vorstellung in Douai im Restaurant nach dem Essen für die ganze Truppe gesungen hat. Phantastische Stimme und höchst professionell. Ute und ich hatten viel Spaß miteinander. Sie ist eine der besten Sängerinnen, die Deutschland vorgebracht hat. Ja, und dann ist sie einige Zeit später von der deutschen Presse andauernd mit schlechten Kritiken konfrontiert worden. Die Deutschen mögen ihre Stars nicht, jedenfalls nicht die, die wirklich Weltklasse sind. Marlene Dietrich hatte so ihre Probleme, Ute Lemper auch, Nina Hagen hat es auch zu spüren bekommen. Und im Ausland? In Frankreich? In England und in den USA, Nina Hagen auch noch in Brasilien? — in all diesen Länder waren und sind sie Stars und werden entsprechend ihrer herausragenden Leistungen vom Publikum geliebt. Und jetzt stand ich beim Zwischenstopp wieder vor dem Schauspielhaus, dass sich gleich gegenüber des Hauptbahnhof befindet.
Kurze Besinnung, Chapeau an Jêrome Savary, der vor Kurzem leider verstorben ist, und noch ein paar Gedanken an die schöne Zeit damals. Mit etwas mehr Zeit wäre ich noch ein Stück weiter gelaufen, in die Lange Reihe, wo eine Gedenktafel für Hans Albers zu finden ist, weil er hier zur Welt kam und aufwuchs. Die Zeit drängte etwas, und so habe ich mich nach Gleis 14 begeben, wo die Nachtzüge abfahren. Um 01:00 Uhr kam er endlich, der Nachtzug nach Berlin. Ich muss dazu sagen, dass ich eigentlich von Dortmund aus gebucht hatte, es aber kurzfristig vorzog, von Hamburg ab zu fahren, da mir die Sicherheit den Anschlusszug zu erreichen höher schien. Ich musste also wieder mit dem Zugbegleiter ein Gespräch führen habe mir die Story der Zugverspätung durch Baustellen — kommt immer glaubhaft an — zurechtgelegt. Nun ist es so, dass die Nachtzüge durchaus komplett belegt sind, besonders im Sommer. Der Schaffner am Bahnsteig sagte mir, ich solle es bei den zwei Waggons probieren die nach Prag fahren, das seien die einzigen, die in Hannover abgekoppelt und vor einen neuen Zug gespannt würden. Die anderen Waggons gingen nach Amsterdam. Als der Zug eintraf und ich eingestiegen war sagte mir dieser Schaffner, das das nicht so auf meinem Ticket stünde, ich solle aber zu den anderen Waggons mit Sitzen gehen und dann in Hannover umsteigen, weil da ja auch die Waggons aus Dortmund angekoppelt werden würden. Also ging ich mit Rucksack und Trolley durch mindestens 5 Waggons, der Zug stand währenddessen immer noch. Blöd dachte ich mir, von dreieinhalb Stunden Schlaf im Bett wären jetzt nur noch weniger als zweieinhalb zur Verfügung. Dort angekommen sagte mir ein anderer Schaffner, dass ich doch hätte gleich bei den zwei Waggons bleiben können, die nach Prag führen, denn dann könne ich ja in nennenswerter Länge bis Berlin schlafen. Ich sagte, dass ich eben von dort her käme. Der Schaffner telefonierte dann und managed it for me. Ich könne auch noch über den Bahnsteig zurück, denn der Zug führe erst in 8 Minuten lies der Schaffner verlauten. Also hops aus dem Zug, vorbei an den Waggons bis ans Ende des Zuges. Der dortige Schaffner, den ich bereits kannte, war verwundert und meinte doch tatsächlich, dass dies nicht auf meinem Ticket stünde, und das das normalerweise nicht ginge, aber wenn der Vorgesetzte das so sage, dann mache er es so und wies mir ein Schlafplatz zu. Und auch hier wieder: Gottseidank gibt es mehr Zugbegleiter, die vernünftiger und flexibler sind als diese Kleingeister, die wie die Pest nicht auszurotten sind.
Berlin. Bundeshauptstadt. 4:33 Uhr morgends. Vollmond am Himmel über Berlin. Schläft. Morgendämmerung, sehe die Silhouette Berlins und vermeine die Kuppel des Reichstages und ein Teil des entsetzlichen Kanzlerbunkers sehen zu können. Erinnerungen auch daran wie es war, nahe der Bernauer Straße gewohnt zu haben, nicht weit entfernt der Berliner Mauer, die längst Geschichte ist. War lustig damals, als West-Berlin noch eine Mauer drum herum hatte, ein ganz spezielles Flair, das sich grundlegend geändert hat. Tolle Zeit damals. Toll bestimmt auch noch heute für Viele, halt aber anders. Und ich heute völlig übernächtigt.
So langsam wachte Berlin auf, Menschenmassen strömten in den Hauptbahnhof, diesen Glaspalast, den ich nicht unbedingt schön finde, aber sehr sehr praktisch. Die Wege, die Gänge, die Rolltreppen, das Leitsystem, alles wunderbar und intelligent geplant. Warum sollte das nicht auch für Stuttgart gelten? Und die Hamburger haben ebenfalls einen Bahnhof in dieser Art, also ich habe bezüglich diese Leitsystems auch für den künftigen Stuttgarter Hauptbahnhof keine Sorgen, diese Kapazitäten des Reisendenaufkommens lässt sich bewältigen, da gibt es andere Probleme, die viel mehr zu Überdenken wären. Ja, und um 6:33 Uhr war der RE nach Greifswald voll, proppenvoll, bis sich Station für Station der Zug wieder langsam leerte. Weiter gings also durch Brandenburg nach Vorpommern bis Züssow, der Umsteigestation, total tote Hose, ein Bahnhof mitten in der Pampa. Natürlich war ich nicht allein, es gab da noch ein paar, die diesselbe Richtung hatte. Ja und das Wetter entwickelte sich nach Regen in Berlin zunehmend, soll heißen: immerhin trocken. Und die Landschaft durchaus mit einem gewissen Reiz beim durchfahren!
Weiter gings nun zum Ziel meiner heutigen Reise, zu einem der drei Kaiserbäder, zum Seebad Ahlbeck direkt an der Grenze zu Polen. Kaiserbäder deshalb, weil im deutschen Kaiserreich Wilhelm II. hier immer seinen Urlaub verbrachte, bei den Seebädern Bansin, Heringsdorf und eben Ahlbeck. Ich erreichte gegen 09:35 Uhr Usedom, praktisch unmerklich wenn man nicht aufpasst, den die Peene ist nach meiner Einschätzung an dieser Stelle nicht breiter wie beispielsweise der Neckar in Heidelberg. Fahrt mit der Bahn im Hinterland. Vom Meer weit und breit nichts zu sehen und das Inselgefühl wollte sich nicht einstellen. Ich muss an dieser Stelle sagen, das ich der Meinung bin, dass eine Insel eine bestimmte Form, eine bestimmte Größe etc. haben muss, um als eine Insel wahrgenommen zu werden. Insofern ist Usedom für mich zwar faktisch durchaus eine Insel, aber emotional keine, das war bisher am stärksten auf Borkum und auf der Reichenau zu spüren, wiewohl diese beiden Insel sehr unterschiedlich in anderer Art und Weise sind. Dennoch: ich genoss die Fahrt und das Wetter wurde immer besser, ein richtiges Kaiserwetter eben. Und so erschloss sich mir auf wunderbare Weise die Herkunft dieses Ausspruchs. Wie würde das wohl sein mit einem anderen Begriff, der zu Usedom gehört, nämlich die Badewanne Berlins. Das galt es für mich heute herauszufinden.
Mein Plan war es, in Ahlbeck ein Fahrrad zu leihen, nach Swinemünde in Polen zu fahren, und wenn die Zeit noch reicht, nach Heringsdorf, um dann nach Ahlbeck wieder zurückzufahren, da ich ja im Bahnhof mein Gepäck im Schließfach verstaut hatte. Es kam aber ganz anders, aber der Reihe nach.
Ankunft in Ahlbeck. Sonniges Wetter. Info am Bahnhof für den Fahrradverleih. Nicht weit vom Bahnhof. Soweit, so gut. usedomrad.com. Verteilerstelle und Stützpunkt. Kein Ansprechpartner vor Ort. Nomineller Ansprechparter – eine Immobilienfirma – verweist mich auf die Hotline. Anruf. Buchungsversuch. Kreditkartennummer. Keine Lust. Barzahlung von mir bevorzugt. Problem. Interne Klärung bei der Hotline notwendig. Ich soll zurückgerufen werden. Zeitverlust inzwischen eine halbe Stunde. Zeitfenster Usedom bis 16:00 Uhr des Tages, da Weiterreise nach Rügen. Marsch zur Küste. Kaiserwetter. Keine Lust mehr auf Fahrrad. Rückruf erhalten mit Zugangscode für die Fahrradleihe. Ich keine Lust mehr. Strand. Kaiserwetter. Schuhe und Socken ausgezogen. Strandwanderung Richtung Heringsdorf. Einfach schön.
Nach erreichen des Seebades Heringsdorf schlenderte ich dann auf der Seebrücke entlang, setzte mich hin, säuberte meine Füße vom Sand und ließ sie in der wunderbaren Herbstsonne trocknen, und das ging gut, da das Thermometer inzwischen auf 25 Grad Celsius gestiegen war. Ich zog meine Schuhe an und spazierte nichtsahnend weiter die Seebrücke entlang in Richtung Meer und sah, dass in fünf Minuten die Fähre nach Swinemünde kommt. Wollte noch schnell ein Ticket lösen, aber, es war niemand am Schalter. Egal, ich probiers trotzdem am Schiff. Nun habe ich die Eigenschaft, möglichst mein Geld in Fünfeuroscheine bei mir zu tragen, das habe ich mir damals vor fast 30 Jahren angeeignet, als ich mal auf Tour nach Israel, also im Heiligen Land war. Da war es immer nützlich, kleine Scheine bei sich zu haben, für den Fall der Fälle. So war es nun auch auf der Seebrücke in Heringsdorf. Aber, jeder der auf der Brücke in der Warteschlange stand hatte ein Ticket, und ich war mir nicht sicher, ob das klappt. Als das Schiff kam, ging alles sehr schnell. Der Pole, der die Tickets prüfte, fragte mich nur, ob ich es klein hätte. Ich solle nur nach Backbord gehen, dass hies für mich auf die andere Seite des Schiffs. Letztlich war es eine wunderschöne sonnige Schiffsreise in den phänomenalen Naturhafen von Swinemünde. Dort angekommen lief ich lediglich der Hautachse entlang Richtung Grenze nach Ahlbeck, stieg in den Zug und fuhr zurück. Die letzte halbe Stunde fotografierte ich noch etwas Bäderarchitektur, und dann war es das. Ob mir Usedom gefallen hat? Naja, es ist die Badenwanne Berlins, es sind die unbedarfteren Touristen, die hier in hoher Zahl da waren, nicht ganz so mein Geschmack eben, etwa so wie der Trubel in Heidelberg, auf Schloss Neuschwanstein oder in Titisee im Schwarzwald. Mehr als ein paar Stunden halte ich es da nicht aus, auch wenn die Rahmenbedingungen, die Landschaft, das Klima usw. eigentlich gar nicht so schlecht sind. Aber was zuviel ist zuviel. Fairerweise muss ich auch sagen, dass ich das Seebad Bansin nicht gesehen habe, auch nicht Peenemünde, wo es ein sehr interessantes Museum gibt und vieles weitere. Aber der erste Eindruck zählt. Wenn es um die Frage geht, welche den drei Inseln, die ich besucht habe ich wieder besuchen darf und müsste, so wäre Usedom leider nicht mehr dabei. Erschwerend kommt dazu, das sich hier das Inselfeeling bei mir nie einstellen wollte. Gesehen und abgehakt, vorerst zumindestens.
Was ich mich schon in der Schule gefragt habe war, warum die heutige deutsch-polnische Grenze so verläuft? Wir haben in der Schule gelernt, dass von den Siegermächten auf der Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 im Potsdamer Schloss Cecilienhof der Flußverlauf der Oder und Neiße als künftige deutsche Ostgrenze festgelegt wurde. Was aber ist mit dem Ostteil von Usedom und Swinemünde, und was ist mit der Stadt Stettin, die ebenfalls westlich der Oder-Neiße liegt? Auf diese Fragen konnte mir noch keiner eine plausible Antwort geben. Es ist natürlich keine existentielle Frage für mich, aber warum sich das so ergeben hat wie es ist, interessiert mich einfach. Meine Vermutung ist, dass Swinemünde mit seinem beeindruckenden Naturhafen und Stettin einfach strategische und kommerzielle Vorteile bieten.
Die mitteleuropäische Geschichte nach dem 1. Weltkrieg bis zum Ende des zweiten Welltkriegs ist auch Inhalt meines heutigen Buchtipps. Der Erlkönig von Michel Tournier. Ein phantastischer Roman, der zu großen Teilen in Preußen, speziell in Ostpreußen spielt. Hervorragend übersetzt von Hellmut Waller und gegengelesen von Michel Tournier selbst, dessen Eltern Germanisten waren und der selbst in Tübingen direkt nach dem zweiten Weltkrieg ab 1946 für vier Jahre Philosophie studierte. Michel Tournier ist der Mythenzerstörer per se, und sein Roman Erlkönig ein großartiger Wurf.
Ein weiteres geniales Buch ist der Roman Zwillingssterne, ach, eigentlich alles von ihm gut und sollte gelesen werden.
Zum Abschluss mein Inselwitz des Tages:
Ist gar nicht so abwegig am FKK-Strand bei gleichzeitiger Informationssucht.
Das solls für heute gewesen sein. In den nächsten Tagen folgt noch ein Postlog und eine abschließende Bewertung aller von mir besuchten Inseln dieser Tour.